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Aber als die „Befreier“ meinen Großvater nach Sibirien verbannen wollten, stießen sie unerwartet auf den taktkräftigen 
Widerstand seiner Landarbeiter. Als Kompromiss und zugleich Gnadenbeweis wurde beschlossen, meinen Großvater nach Równe zu schicken. Zugleich aber, um deutlich zu machen, dass es kein Zurück gibt, wurde das Herrenhäuschen des Großvaters in Brand gesetzt. Inzwischen waren wir, meine Mutter und ich, in das verlassene Haus des Onkels umgezogen, denn unsere Wohnung in einem Vierfamilienhaus war durch die Bombardierung schwer beschädigt worden. Dorthin kamen auch meine Großeltern. Trotz des steigenden und anhaltenden Unrechts zog langsam so etwas wie Normalität ins Leben ein. Es wurde bekannt gegeben, dass derjenige, der einen Klassenfeind versteck hat, sofort an Ort und Stelle erschossen wird, indes der Klassenfeind „nur“ nach Sibirien verschleppt würde. Nur Onkel Wladek, aber nicht seine Familienangehörige, stand auf der Fandungsliste. Schließlich entschied er sich wieder aufzutauchen und seine Ehefrau wollte bei ihm bleiben, egal was passieren könnte. Das Ehepaar hatte drei Söhne. Im Familienkreis wurde beschlossen, dass Adam bei meiner Mutter zurückbleibe, damit, falls die anderen nicht wieder zurückkamen, wenigstens einer das Familienerbe antreten könne. Aber das Schicksal wollte es, dass die Familie heil aus Sibirien zurückkehrte, mein Spielgefährte Adam jedoch kurz danach an einer Hirnhautentzündung starb.

So verging Monat um Monat. Wir hatten inzwischen gelernt, wie man den Hunger überlisten könnte.  Gewöhnlich bestand bei uns eine Hauptmahlzeit aus einer Kartoffel pro Kopf und weiter nichts. Bis etwa zum 18. Juni 1941. An diesem Tag gab es plötzlich (ohne Reklame) ein riesengroßes Angebot von fast allen wichtigsten Lebensmitteln in allen Läden. Was war es für ein Tag! Es gab dafür keine amtliche Erklärung, aber auch keinen Widerruf des Gesetzes Nje palagaietzja. Es gab Landsleute, die genug Rubel hatten. Also wiederum erlebte der Rubel seine große Kaufkraft, jedoch das Angebot an Lebensmitteln war diesmal riesig größer als der persönliche Bedarf des befreiten Volkes.

In der Nacht vom 21/22 Juni war der sowjetische Okkupant laut- und Spurlos verschwunden. Wir lebten wieder mal, diesmal aber nicht lange in einem Niemandsland, denn gleich kamen die deutschen Soldaten hereingefahren, fast feierlich, gut ausgerüstet, gut aussehend wie Touristen. Diese Soldaten sprachen untereinander polnisch, was uns sehr bestürzte. Sehr wahrscheinlich waren sie nur eine Vorhut. Es gab keinerlei Probleme mit ihnen, sie zogen rasch weiter. 
Ein paar Wochen lang geschah gar nichts, und die Menschen in Równe fühlten  sich wieder allein gelassen. Doch schon Mitte August 1941 kamen deutsche Verwaltungsbeamte, zum Teil mit ihren Familien zusammen. Sie brachten eine völlig neue Währung mit, die starke und gute deutsche Reichsmark, von Rubel war keine Rede mehr. Die Beamten bauten eine deutsche Verwaltung in der Stadt auf und verhielten sich sehr höflich und unauffällig. Einige von ihnen zogen in Stadtteil Grabnik ein. Auch bei uns wohnte ein Deutscher als Gast-Mieter. Ich bekam von ihm häufig kleine Spielzeuge geschenkt. Meine Mutter wurde als Bürokraft bei der Gebietslandwirtschaft eingestellt und auch Großvater Leon bekam eine kleine Stelle als Buchhalter. Obwohl er kaum deutsch sprach, war er als Fachkraft unentbehrlich. Das Angebot und Versorgung in allen Lebensmittelarten war wieder ausreichend. Es wurde, vielleicht um dem Unabhängigkeitswillen der ukrainischen Nationalisten genüge zu tun, schon im März 1942 die Zentralnationalbank Ukraine in Riwno gegründet und eine neue Währung, der Karbowanez eingeführt. Der Karbowanez wurde 2-sprachig bedrückt: Deutsch und ukrainisch. Es scheint, 
eine Normalisierung der Verhältnisse zu beginnen.       



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